29.10.2021 – Individualität und Gerechtigkeit – was wir aus der Krise lernen wollen

 

Individuelle Entwicklung fördern, bedarfsgerecht handeln, dabei Integration ermöglichen und soziale Gerechtigkeit herstellen – die Mantras unserer pädagogischen Ausbildung und theoretischen Leitlinien im beruflichen Alltag. Klingen schön und einleuchtend – wäre da nicht die Praxis mit all ihren Sonderfällen …
Eine Kolumne von Bianca Hartmann

 

Bianca Hartmann ist Sozialpädagogin M.A. und arbeitet als Teamleitung der Intensiven Flexiblen Familienhilfe im WidA (Wohnen in der Au) im Erziehungshilfezentrum Adelgundenheim. Foto: privat

„Wir nutzen die Corona-Krise als Lernfeld und schauen positiv in die Zukunft!“

Bianca Hartmann, Sozialpädagogin im Erziehungshilfezentrum Adelgundenheim

 

„Im Kleinen“ betrifft dies den pädagogischen Alltag in allen Formen der Hilfen zur Erziehung. Ein Beispiel:
In der Heimgruppe müssen die BetreuerInnen entscheiden, ob die Zwölfjährige nun am Nachmittag ihren ersten, dramatisch schweren Liebeskummer von der besten Freundin trösten lassen darf, oder ob sie auch heute pünktlich um 15 Uhr mit den anderen ihre Hausaufgaben erledigen muss. Was geht nun vor? Der individuelle Bedarf, den Herzschmerz zu bearbeiten? Wir erinnern uns alle mal kurz daran, dass in den Gedanken einer Zwölfjährigen in diesem Moment GANZ ECHT gerade die Welt untergeht … Oder steht über allem die gerechte Umsetzung der Gruppenregeln für alle?

 

„Im Großen“ stellt sich die Frage von Individualität und Gerechtigkeit für die gesamte Jugendhilfe:
Eltern wenden sich mit einer krisenhaften Situation in der Familie an das Jugendamt – eine ganze Palette an Hilfen steht zur Verfügung von ambulant bis stationär. Doch was, wenn nichts Passgenaues dabei ist? Geht nun vor, etwas Bedarfsgerechtes zu konstruieren, das unter Umständen höhere Kosten und eine Menge Mehrarbeit verursacht? Oder bekommt diese Familie die gleichen Angebote wie alle anderen? Was ist denn nun gerecht?Die Coronakrise mit ihren Einschränkungen für unser aller Alltag treibt solcherlei Fragen aktuell auf die Spitze. Ist es gerecht, dass Jung und Alt und Jedermann die gleichen (sozialen) Einschränkungen erleben? Welche individuellen Lösungen für wen sind notwendig? Welches Kind darf in die Notbetreuung und welches nicht? Welcher Bedarf hat denn Vorrang – der der großen Gruppe, oder der des Individuums? Eine ganze Gesellschaft erlebt mit, was es heißt, wenn die eigenen Bedürfnisse sich aktuell vielleicht nicht mit den Bedürfnissen „der meisten“ decken. Es steht außer Frage, dass es in diesem Fall größtenteils sinnvoll bleibt, den Schutz der „Schwächsten“ vor die eigenen, individuellen Bedürfnisse zu stellen. Und doch können wir uns alle hier einfühlen, und das gibt uns die Chance, zu lernen!

Viele von uns pädagogischen Fachkräften der Jugendhilfe haben bisher nicht erlebt, wie es ist, auf der anderen Seite zu stehen, selbst HilfeempfängerIn zu sein, anstatt zu helfen. Die Coronakrise erleben wir alle – und unter Umständen das Gefühl, in unseren individuellen Bedürfnissen nicht so ganz gesehen zu werden. Was können wir daraus mitnehmen? Unsere Antwort lautet: Es lohnt sich, sich für bedarfsgerechte Lösungen für KlientInnen einzusetzen. Es lohnt sich, individuelle Maßnahmen anzubieten. Es lohnt sich, die Innenperspektive der KlientInnen aufmerksam zuhören und Angebote zu schaffen, die es vielleicht bisher in dieser Form nicht gibt. Es lohnt sich, innovative Gedanken zu verfolgen und über viele Hürden hinweg dran zu bleiben. Und gleichzeitig steht es außer Frage, dass wir an bewährten, sinnvollen Regeln, Strukturen und Angeboten festhalten. Denn das eine schließt das andere nicht aus, im Gegenteil, beides hat seine Berechtigung und kann Hand in Hand gehen – das ist unsere bisherige Erfahrung, das hat uns die Krise gezeigt, und das wollen wir in die Praxis hineintragen.

 

Das bedeutet für uns konkret: Wir hier im Wohnen in der Au / Erziehungshilfezentrum Adelgundenheim behalten unsere Richtung bei und wollen weiterhin konstant und gleichzeitig neu, bedarfsgerecht und innovativ sein. Dabei kann uns auch keine Coronakrise entmutigen, im Gegenteil – wir nutzen sie als Lernfeld und schauen positiv in die Zukunft!